Wilder Osten: 90er-Mammon, gib uns unser täglich Burnout und Ruf! Mich! An!

Im Mittelalter sprach Gott: ‚Ich geh mit dem ins Bett, der die Schlacht gewonnen hat.‘ Doch Gott ging den Weg allen Irdischen und der Mensch sollte den göttlichen Thron besteigen. Als der gottesfürchtige Mensch nun mit Geld vom Frondienst befreit wurde und nach schier endlosen Kriegen endlich auf dem Weg der Besserung schien, inthronisierte sich das Geld selbst. Es erhob seine goldige Hand und gestikulierte dem Menschen zu: ‚Ätschibätsch‘.

Es begann schleichend in den 80er Jahren. Erst war es im Fernsehen und die Experten, damals rauchende Männer in Rollkragenpullovern, sprachen von weitreichenden Veränderungen. Erst war es die Post – da habe ich nichts gesagt, die faulen Beamten sollen ruhig auch mal arbeiten. Dann waren es Versorgungsunternehmen – da habe ich nichts gesagt, denn anfangs wurde es ja billiger. Dann waren es die Krankenkassen, die Rente, die Sportstadien – aber ich habe nichts gesagt, denn ich bekam ein wenig Luxus ab. Jetzt werden die sozialen Probleme privatisiert. Kann mal jemand was sagen?

So waren’s die 90er!

Stimmungsbild: Wie es seinen Anfang nahm

Es war doch nur ein kleiner Sinneswandel. Allmählich formte sich ein seltsames Wort dafür: Globalisierung. Doch es war eine Nebelkerze, denn der Raubtierkapitalismus setzte zum Sprung an. Seine kalten Auswirkungen nennen wir Neoliberalismus. Wer hätte schon ahnen können, dass die AfD herauskommt, wenn man den Sozialstaat stetig abbaut? Ja, gut – die gesamte Philosophie und Sozialwissenschaft, die Gewerkschaften und die politisch Linken. Aber wer sonst, frage ich Euch? – Die Mehrheit der Menschheit?

Aber den meisten bei uns gings ja gut, einer geringen Schicht sogar besser. Schließlich war der Kaffee plötzlich viel billiger, die Läden hatten länger offen und den Staatsdienenden wurde mal richtig was weggekürzt. Halb so viele Leute bei gleicher Leistung! Doch das Lachen blieb in der Warteschlange hängen. Und diese Beamtinnen und Beamten haben die doppelte Belastung eine ganze Weile auch hingekriegt – Chapeau! Aber irgendwann ist der Ofen halt aus. Der Begriff dafür, was damals eingeleitet wurde, ist heute ‚Burnout‘. Sind doch nur Arbeitskräfte, davon hatte man damals sowieso zu viel. Denn in jenen Tagen, und das war doch offensichtlich – nahmen uns die Ausländer die Arbeit weg! Heute wollen die Ausländer aber nicht mehr arbeiten. Dass es austauschbar ist, was man dem Schuldenbock so anhängt – ist doch egal! Damals trieben die vermeintlich arbeitsplatzstehlenden Ausländer die Republikaner in die Parlamente, heute profitiert die AfD vom konservativen Wahlkampfthema.

Derweil hatte die gutverdienende Bevölkerung ein neues Motto geweiht: „Sei nicht so – gönn Dir was!“ Und das kam an! Die ganze Bevölkerung folgte dem Ruf des Egoismus. Ich kann mich noch gut erinnern, dass von einem Jahr auf das nächste das Wort ‚Profit‘ seinen schlechten Klang ablegte. Es war die ständige Wiederholung des Satzes: ‚An Profit ist nichts schlimm‘. Und schon änderte sich das Verständnis von Verteilung – nachhaltig. Wer auch immer diesen Slogan – einfach und durchdringend – erfunden hat, diese Person hat den ersten Axtschlag gegen die Demokratie ausgeteilt und befreite den Egoismus aus der Fessel der Moral. Unter diesem Stern konnte man sich der lästigen Geschichte von erzwungener Chancengleichheit und der Pflicht eines Sozialstaats entledigen. Diese Axt schwingt noch heute gegen das demokratische Fundament, aber zur Tarnung mit anderen Worten: ‚Arbeit muss sich wieder lohnen‘. Diese Propagandakeule hat so umfassend gewirkt, dass heutzutage Verbote und Verantwortung den gesellschaftlichen Status einer alten, behinderten, obdachlosen Frau mit einer psychischen Erkrankung und Migrationshintergrund fristen. Mit Glück wird es noch geduldet. Nach mir die Sintflut ist deren Maxime, denn der Klimawandel ist CDU/CSU/AfD/FDP so egal wie damals die Umwelt.

Wenn man die heutige Bedeutung von Geld bedenkt, muss man sich auch verdeutlichen, dass Währungen, Wirtschaft und derlei mehr auf rein konstruiertem Boden stehen. Es ist alles nur erfunden.

‚Genug jetzt mit dem Kommunismus, der hat nämlich verloren! Genug jetzt von der Warnung vor dem Faschismus! Das haben wir alles hinter uns!‘ Das war der Schlachtruf der 90er Jahre! Es folgte ursprünglich eine Litanei an Metaphern für die Irrungen dieses Wegs, die ich bei wiederholtem Lesen selbst nicht mehr ertragen konnte. Plötzlich versteht man, wieso sich die Leute der Biedermeierzeit abwendeten. Also wenden wir uns den 90er Jahren zu, als der Weltfrieden in greifbarer Nähe schien. Und Berlin war sein pochendes Herz!

Schluss mit dem politischen Gedöns! Jetzt wird’s lustig!

Senior Hainer war auf der Suche nach dem Glück, also Geld. In einer Zeitung annoncierte eine Firma einen Casting-Pool. Geld fürs Schauspielern wäre akzeptabel, dachte der unerfahrene Hainer. Was sich erst im Laufe des Gesprächs abzeichnete, man muss für die Aufnahme in die Datenbank bezahlen. Als ich das monierte, schrie mich ein geschwollener Hals an, ob ich seine Kontoauszüge sehen wolle? Den Kontext habe ich damals schon nicht verstanden. Natürlich bezahlte ich die 50 DM und hörte nie wieder etwas von ihnen. Stattdessen stand mein Foto offen und zugänglich auf einer Homepage. Heute ein riesiges Datenschutzproblem, damals war man irgendwie stolz darauf. Schau mal, Mama, ich bin jetzt auf einer Homepage zu sehen. Es ist ein bisschen wie das Fotografieren. Damals wollte man auf Fotos sein, heute muss man jedes Foto ohne Erlaubnis verpixeln.

Auf der Suche nach Studijobs kam ich dann zu einem Vorstellungs-Team-Gespräch. Ich sollte Spenden einsammeln: Crowdfunding. Nur war das Bezahlen über das Internet weder möglich noch sicher. Also waren mit ‚Crowd‘ die Leute auf der Straße angedacht. Wenngleich mich Ernährung und Landwirtschaft interessierte, dieses unerwünschte Anquatschen lag mir nicht. Ich überstand nicht mal die erste Runde und war froh, wieder an der frischen Luft zu sein.

Um die Kneipenjobs kam ich herum, schließlich wollte ich Gast sein. Fabriken gab es in Ost-Berlin dank Treuhand kaum und so landete ich tatsächlich bei einer Softwarefirma. Und für Software brauchte man Computer. Goldgräberstimmung! In jeder großen Straße gab es mehrere Computerläden. Um am Ball zu bleiben, musste man schließlich Equipment kaufen. Es war die Zeit der CDs, dann der CD-Brenner, dann die DVD, dann die DVD-Brenner. Doch die Entwicklung war noch nicht am Ende, es gab ein Kopf-an-Kopf Rennen zwischen HD-DVD und Blu-ray. Zwei Systeme, hinter denen zwei unterschiedliche Firmen-Konglomerate standen. Die erste Schlacht gewann die HD-DVD mit der Double-Layer-Technologie, was die Kapazität verdoppelte. Doch HD-DVD hatte nur 30 GB, während Blu-ray auf diese Weise auf 50 GB kam. Kapazität hin oder her – die Wahrheit ist, es lag am Namen. Was klingt besser: Ich habe den Film auf Blu-ray oder HD-DVD. Abkürzungen über drei Zeichen sind sowieso zu viel! USB-Sticks gab es auch schon, aber nur für einige Word-Dokumente. Als Erstsemester hatte ich noch nicht mal einen Computer.

Kriege und Kannibalismus in Berlin

Auch mit Computer waren wir die meiste Zeit draußen im Grau der Ostromantik. Das einzig Bunte entlang des Fassadenreliefs war das Döner-Logo. Auch bei den Neon-Leuchten des Nachts waren die Döner-Läden die Trendsetter in meiner Erinnerung. Spätis, Bäckereien und Kneipen kamen erst später auf diesen Trichter. Und der Döner war Mode geworden. Es gab Sprüche, wie …  – ja, genau – den meine ich. Es gab einen gewissen Lokalstolz, schließlich wurde er in Berlin erfunden. Und vor allem gab es einen Preis, der akzeptabel war. Einen Döner auf der Ecke zu haben, gehörte zur Grundausstattung einer Berliner Wohnung. „Wo ist denn Dein Döner?“, war eine normale Frage. Döner everywhere, Döner satt. Was wir uns damals noch gar nicht vorstellen wollten, das konnte selbstverständlich nicht gut gehen. So viele Leute gab es gar nicht, die so viele Döner essen wollten? Es begannen die Döner Wars! Döner für zwei Mark, Döner für 1,50 ! Oh, wie wir uns gelabt haben und unsere Tröge füllten. Und dann kam das große Ende – nicht alle Läden erlagen dem Preiskampf, manche wurden auch wegen Hygiene-Verstößen geschlossen. Aber wir waren alle schockiert, als wir vom Gammelfleisch-Skandal hörten!

Wir, die wir Knight Rider als Kinder schauten, erlebten noch das Ende der analogen Tontechnik. Wir lachten über unsere Jugendausstattung: die Walkmans. (Ein ‚Walkman‘ ist ein portables Soundsystem ohne Bass und ohne Display mit einem scheckkartengroßen Speichermedium, auf das bis zu 2 x 45 Minuten Musik gespeichert werden konnte; und man konnte nur vorspulen). Ja, wir hatten gut lachen, denn wir erlebten noch die Anfänge des MP3-Players! Wenn Du jetzt nicht weißt, was das ist, dann frage Deine Eltern. Wir mussten unsere Musik noch in langen Nachmittagen zusammenstellen. Von der CD runter auf den Computer und auf den Player, auf dem natürlich beileibe nicht alles Gewünschte draufpasste.

Und statt Spotify hatten wir das Urgestein der Massenmedien: Radio. Die Erlaubnis für private Radiostationen erlebte in den 90er Jahren ihren Höhepunkt. Die Frage des Radiosenders war eine Frage der persönlichen Identität. Sag mir, welchen Radiosender Du hörst und ich sag Dir, ob ich Dich zu meiner Party einlade. So manchen Radiosender in Berlin ereilte dasselbe Schicksal wie die Döner- und Computerläden. Die Radiokriege der 90er Jahre waren auch legendär. Noch recht neu war damals kiss fm mit RnB und Hip Hop. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, der Sender war eine Partei in den Radiokriegen der 90er Jahre.

Die Bandagen wurden härter. Man schraubte die Gewinnpreise hoch, zeitweise gab es spektakuläre Preise zu gewinnen:  Autos, Reisen und Tausende Euro an Bargeld waren nicht selten. Dann kam eine weitere Schippe der Eskalation oben drauf: Mit einer hallenden Stimme rief ein Mann durch den Äther: „Gewinne das Geld anderer Leute!“, und meinte damit die Lösung für das Rätsel auf dem anderen Sender. Dort musste man etwa einen Musiktitel wissen – das genaue Zeremoniell ist mir entfallen. Also hörten die Leute den einen Sender und riefen beim anderen Sender an. Eine Art Funk-Kannibalismus.

Glaubte man der Anzahl der TV-Werbungen damals, hatte die andere Hälfte der männlichen Bevölkerung in der einen Hand einen Telefonhörer, der mit einem Kabel an einem Apparat fixiert war. Im Minutentakt erhöhte sich die Telefonrechnung im einstelligen Bereich. Alles nur, weil eine Frau aus dem Fernsehen hinter jedem Wort eine Peitsche schwingend befahl: „Ruf! Mich! An!“ Und dann kam die Einzelverbindungsauflistung!

Ja, ja. Es waren seltsame Zeiten. Hast Du gewusst, dass gerade in Friedrichshain in den 90er Jahren noch ein Trabbi als Polizeiauto durch die Straßen patrouillierte?

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