Karma is a bitch

Kurzgeschichte: Soziale Kälte | Karma is a bitch

Die kahlen Bäume reihten sich im Scheinwerferlicht der schwarzen Limousine, die mit 80 Stundenkilometern die Allee hinabschoss. Christian Gierton blickte aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Haussilhouetten. Die Straße hinab erblickte er das Gier-Octoton. Stolz erfüllte ihn – das war sein Projekt.

„Man müsste die Ecke von Berlin nach mir benennen: das Gierton-Viertel, wenn man bedenkt, was ich hier alles geleistet habe.“ Vor allem aber hat es seine Konten kräftig gefüllt. Jede Null in dieser gerundeten Zahl verdiente ein weiteres Grinsen. Ihm war es eben gegeben und so war es schon immer.

Gierton wies seinen Chauffeur an, das Gaspedal ordentlich durchzudrücken. Geldstrafen konnten ihn nicht schrecken, er handelte schließlich mit sechsstelligen Konventionalstrafen. Das Auto nahm an Geschwindigkeit zu. „Das ist eben mein Stil“, zuckte er mit den Schultern kurz. „Man muss schneller sein als die anderen – das gilt auf allen Ebenen“, teilte er seine vermeintliche Weisheit mit dem Chauffeur. Das Wissen darum, da war er sich sicher, unterscheide den gewöhnlichen Hans von strahlenden Persönlichkeiten wie ihm. Gierton kannte die ungeschriebenen Marktregeln und sie allein bestimmten sein Handeln.

Als der Wagen vor dem Rathaus an der Ampel zum Halten kam, überlegte er, wie es wohl wäre, wenn der Stadtrat mit seinem klapprigen Damenrad im Scheinwerferlicht auftauchen würde.  Er klappte den Spiegel vor sich herab und nahm einen tiefen Zug seines kathedralischen Egos. Er sagte sich gerne, dass er es von ganz unten geschafft hat, auch wenn das gar nicht stimmte. Er war sich sicher, er war der Hengst. Geld und Erfolg – das war sein ganzer Stolz. Er inhalierte das Gefühl, das seine Line um ein Vielfaches potenzierte.

„Früher“, so erzählte es Gierton gerne seinem Chauffeur, „saßen hier Punks herum und pöbelten die Leute nach Kleingeld an. Früher war es eine graubraune Melange an verfallener Mauern, die nur arme Familien beherbergten. In diesem Umfeld macht man kein Geld. Der Bezirk müsste mir dankbar sein, eine Straße nach mir benennen.“ Der Chauffeur kannte den Vortrag auswendig und ertrug ihn widerspruchslos. Ein ‚Ja‘ käme ihm niemals über die Lippen.

„Die Leute sollten mir danken. Ich habe ganze Blocks von der Armut befreit. Ich bin eben ein Siegertyp! Denn es gab schon immer nur zwei Arten von Menschen: diejenigen, die gewinnen und die anderen – schlechte Verlierer, die aus Neid und Missgunst Dreck auf mich werfen. Diese Kommunisten-Penner, die es nie zu etwas gebracht haben und mir mein Geld wegnehmen wollen“, regte er sich innerlich auf. Er baute schließlich die Heimat des undankbaren Mobs. Berlin muss man sich eben leisten können!

„So ist das Leben eben, das verstehen diese Sozialschmarotzer nicht. Die wollen für das Nichtstun bezahlt werden. Die Faulen müssten aus der Gesellschaft entfernt werden und die Kommunisten selbstverständlich – dann würde alles wieder richtig laufen“, postulierte er vor sich hin. „Es ist ja geradezu unnatürlich, dass das arme Gesocks in zentraler Lage wohnt! Das muss man sich erarbeiten, so wie ich. Und immer dieses Rumgeheule nach Sozialwohnungen und Mietenregulierungen. Die Armen sollen einfach mehr arbeiten gehen, dann können sie die Wohnungen bezahlen. Diese Leute sind das Allerletzte“, schrie Gierton bereits vor Wut und bekam einen schalen Geschmack im Mund.

Der schale Geschmack reizte seine Schleimhäute und Gierton überfiel ein unangenehmer Husten, der wie ein Reibeisen an seiner Kehle kratzte. Er befahl seinem Fahrer zu bremsen und bemerkte dabei die Gallenflüssigkeit aufsteigen, doch sie erreichte die Kehle nicht. Der Wagen hielt an der Straßenseite. Das Dunkel der Ohnmacht griff nach Gierton und zog ihn in die Tiefe. Als er wieder erwachte, lag er in einer heruntergekommenen Wohnung. Nur wenige Möbel, eine armselige Einrichtung und schwaches Licht. Die alten Tapetenreste hingen fetzenweise von den Wänden und der gelbliche Ton des früheren Deckenweißes rundete den Eindruck ab.

Die Fragen prasselten auf Gierton hinab: ‚Wo bin ich?‘ ‚Wo sind die Entführer?‘ ‚Warum bin ich nicht gefesselt?‘ Er schaute sich um und bemerkte eine Kühle. Die zugige Luft und schlechte Isolierung: Eine Ahnung stieg in ihm auf und sein Blick richtete sich zu Decke, wo flauschige Schimmelblumen herabhingen. Mit ansteigender Panik suchte Gierton den Ausgang. Er drehte den Türknauf und bemerkte augenblicklich den eiskalten Luftzug, der von einer beißenden Kälte berichtete.

Im Versuch, die seltsamen Vorkommnisse in eine logische Reihenfolge zu bringen, wurde er jäh unterbrochen. Ein grobschlechtiger Mann mit einem Körper, der nicht von Selbstbeherrschung gezeichnet war, trat drohend in den Raum. Trotz der fehlenden Worte verstand Gierton Gestik und Grunztöne: Es war die Aufforderung, die Wohnung zu verlassen. Gierton ging zur Tür, hinter der dieser unerträgliche Frost herrschte. Eine Kälte, die er nie zuvor verspürt hatte, biss ihm ins Gesicht. „He, der Raum ist räudig, aber draußen würde ich augenblicklich erfrieren. Bei dieser Auswahl bevorzuge ich eindeutig diesen verschimmelten Raum!“ Gierton hätte Geld geboten, hätte er sein Portemonnaie gefunden. Es war ein Albtraum, von dem er kaum erwachen würde.

Der grobschlechtige Mann, der Gierton um mindestens einen Kopf überragte, wies ihm ein letztes Mal die Tür. Gierton weigerte sich, er flehte darum, bleiben zu dürfen. Schließlich protestierte er: „Das können sie nicht machen! Ich bezahle sie, sobald ich Geld habe. Bitte schicken Sie mich nicht hinaus!“ Doch der unfreundliche Mann packte Gierton am Arm und zog ihn mit Zwang vor die Tür.

Gierton stand in einer undurchdringlichen arktischen Welt, in der er offenbar alleine war. Außer einem weißen Hintergrund, vermochte er nichts auszumachen. Fragen des Verbleibs, des Wagens, des Geschehens, wichen der eisigen Realität. Das Heulen des Winds machte Gierton klar, dass er etwas tun muss. Gegen Kälte hilft Bewegung, wie Arbeiten gegen Armut – also ging er los. Doch das kalte Nichts hatte ihn längst eingehüllt und sog ihn auf.

Die Kälte kroch durch jede Pore und seine Hände färbten sich lila, der Nasenrotz hing in Eiszapfen herab und der Kiefer zuckte im Gleichklang mit den Händen. Die wackelnden Beine erschwerten den Gang durch diese lebensfeindliche Welt. Als sich die Hände dunkelblau färbten, fror das Zittern ein, und die Finger ließen sich nicht mehr anwinkeln.

Beim Gehen vernahm er ein seltsames Geräusch. Insgeheim wusste er, dass es das Reißen der Muskulatur war. In der Konsequenz gehorchten ihm auch die Beine nicht mehr. Wie ein Knäuel kauerte er sich nach dem Aufschlag auf dem gefrorenen Boden zusammen. Er war noch bei Bewusstsein, als die dünnen Stoffbahnen seines maßgeschneiderten Anzugs rissen. Die letzten Zuckungen auf dem rauen Boden verletzte die Haut, die mit dem eisigen Untergrund zusammengefroren war.

Kein Muskel gehorchte seinem Herrn noch und die Kälte griff erbarmungslos weiter um sich. Es dauerte noch einige stille und bewegungslose Momente, bis das Leben mit der Wärme wich. Der Tod, kalt und unbarmherzig, bemächtigte sich des gefrorenen Klumpen Fleisches.

Gierton im eisigen Nichts
Gierton im eisigen Nichts

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