Der Wilde Osten: Wie die Simon-Dach-Straße ihren Anfang in den 90ern nahm

Es gab eine Zeit, in der die Simon-Dach-Straße noch nicht die Touri-Meile war. Eine Zeit, in der es in dieser berühmt-berüchtigten Straße nachts ruhig und düster war. Nehmt Euch eine Decke und lauscht den langweiligen Geschichten längst vergangener Tage, in denen es überall Drogen und Partys gab – nur nicht in der Simon-Dach-Straße.

astrobar comicstyle

Ich war gerade nach Friedrichshain gezogen und wohnte in einer WG in der Marchlewskistraße. Es war Winter (damals waren die noch hart) und die kurze Zeitspanne des Lichts war bereits abgelaufen. Der Wind pfiff durch die leer gefegte Warschauer Straße, auf der eine Tram einsam ihre Runde zog. Da klingelte das Telefon. Eine Vorahnung überkam mich. Würde jemand von mir verlangen, die warmen Hallen an einem Werktag zu verlassen? Womöglich auch noch verbunden mit den Kosten eines BVG-Tickets? Es schauderte mir, als ich den Telefonhörer … Damals hatten wir noch ein Festnetz. Das ist ein immobiles Telefon an einem Kabel mit einem Tastenfeld und ohne die Möglichkeit, eine Telefonnummer nachzusehen. Als ich den kalten Hörer an mein Ohr hielt, schallte das Lachen des Schicksals durch den Äther. Ein alter Freund auf Durchreise wollte sich mit mir treffen. Das Grauen, das kalte Grauen und die bange Frage, wohin soll man denn gehen? Ich kannte mich null aus und ohne Internet wusste ich gar nicht, wohin die Reise gehen sollte. Der Gedanke, etwas zu suchen, ließ die Temperatur weiter fallen. Götter, warum habt ihr mich verlassen? Warum? Ich fragte meinen Mitbewohner nach einer Kneipe, einer Bar oder einen Späti? Mit den Methoden, wie sie unsere Vorfahren einst ausübten, fand mein Mitbewohner eine – nein, zwei Bars. Er nannte mir den Straßennamen „Simon-Dach-Straße“. Ein Plan musste her, eine analoge Karte, auf der man Straßen und den Weg dahin finden konnte. Schon das Falten dieser analogen Google Maps war eine Herausforderung.

Der winterliche Geruch aus Kohleverbrennung und Pisse verschiedener Spezies begleitete uns auf dem Weg. Jedes Wort in der Kälte war zu viel und so huschten wir zur empfohlenen Ecke: Simon-Dach-Straße und Wühlischstraße. Tatsächlich erhoben sich Lichter einer Bar aus dem Dunkel der Straße, die in meiner Erinnerung in einen dichten Nebel versunken war. Angesichts des Graus am Tage und dem Dunkel der Nacht zeichnete sich Friedrichshain zu jener Zeit nicht durch jugendliche Frische aus. So hätte ich auch nicht erwartet, dass wenige Meter weiter Paules Metal-Eck gewesen wäre. Aber dennoch war ich gleich begeistert von einem Tresen dieses Kalibers in meiner Nähe. Es gab damals auch schon die Eckkneipen, deren Charme ich aber erst später zu schätzen lernte. Der einzige Makel an dieser Bar, der Blechbilderbar, waren die Sitze. Es waren künstlerisch hoch wertvolle, hoch stylische Metallstühle, die leider total unbequem waren. Anscheinend haben unbequeme Stühle eine gewisse Tradition in Berlin. Schon das Tacheles wartete damit auf und später gab es derlei auch im Lauschangriff und anderen Locations.

Ich hatte damit das erste Mal Kontakt zu dieser Straße. Es war der Anfang einer ereignisreichen Verbindung, die man – gut das muss man zugeben – unausweichlich war. Diese Wirkung betraf allerdings nicht nur mich. Und wo die Nachfrage da war, dauerte nicht lange, bis aus zwei Bars vier, fünf, sechs geworden sind. Irgendwann hörte man auf zu zählen und zu berichten: „He, es hat eine neue Kneipe in der Simon-Dach-Straße aufgemacht“. Es kam so weit, dass man bei jeder Straßenbegehung neue Bars antraf. Es war das große Bar-Eldorado. Alle überlegten ernsthaft, das könnte man doch auch.

Als dann die Astro-Bar aufmachte, war das Schicksal der Straße beschlossen. Es dauerte nicht mehr lange, bis die Simon-Dach-Straße als Geheimtipp in allen Stadtführern der Welt geführt wurde. Das RAW war erst später dazugekommen, die Simon-Dach-Straße machte Friedrichshain erst berühmt. Wie alle schildernden Geschichten, die in dem Fall von einem Wirtschaftsaufschwung durch Tourismus begründet war, barg auch diese eine medaillierte Kehrseite, und zwar den Tourismus. Die Leute waren beliebt, wenn sie das Geld brachten und verhasst, wenn sie reiernd die Bierflaschen durch die Gegend warfen und der alte Geruch von Pipi erneut die Straßen durchflutete.

Die Astro-Bar war etwas Besonderes. Der Laden war abgedunkelt, die Musik war elektronisch, das Licht neonfarben und die Leute waren szenisch. Derartiges gab es davor nicht, und zu dem Zeitpunkt gab es nirgends mehr Leute mit Klappspiegel im Portemonnaie. Denn das Klo war meist besetzt, wie an jenem Tag, an dem ein Pärchen lauter als die Musik war. Die Erlebnisse, die Bekanntschaften und den Lungenschaden werde ich für immer behalten. Die Astro-Bar hatte sich sogar einen vermeintlichen Gegenpol geschaffen. Das Habermeyer sollte eine aus Protest gegen die Vorgänge oder Veränderungen in der Astro-Bar gegründete Kneipe werden. Leider ist mir der genaue Grund nicht mehr gegenwärtig. Das war zwar Jahre später, doch für die damalige Zeit war die Gärtnerstraße noch nicht vom Bann der Simon-Dach-Straße erfasst. Nach und nach wurden immer mehr Straßen vereinnahmt, sofern sie nur nah genug an der Simon-Dach-Straße waren. Schon eine Straße zu weit vom Licht der Simon-Dach-Straße entfernt, ging so manche Bar ein. Bis die Partyausdehnung eines Tages das Ostkreuz erreichte und inzwischen begrenzt wird. Es war ein außerordentliches Schauspiel, das mitanzusehen, was mich zu einem Zeitzeugen dieser Zeit machte. Denn so jung … blabla.

Gegenüber der Astro-Bar lag das legendäre “Zehn Vorne”. Für Nicht Star Trek Fans: “Zehn Vorne” ist die Bar auf dem Raumschiff Enterprise, das erklärt auch den Wortgebrauch: ‚legendär‘. Hier konnte man sich irgendwas von Star Trek ansehen, es gab fast alle Filme und Serien auf VHS, und das war damals schon eine veraltete Technologie. Aus welchen Gründen auch immer, die Kneipe schloss eines Tages. Es war abzusehen, dass viele kleinen Locations Platz machen würden.

Schon relativ früh kam das das INTIMES an der Ecke Boxhagener Straße war eine der ersten Bars als Bar hinzu (Danke für den Hinweis an Karsten Frank). Eine Bar mit angeschlossenem Kino, das nicht zuletzt wegen seines Brunches beliebt war .. ist? Bis heute sage ich übrigens intimes auf Deutsch, als meinte man etwas Nahes, Vertrautes wie eine intime Beziehung. Aber es meint natürlich das englische in Times in der Zeit, aktuell … Oder?

Ja, so nahm das mit der Partymeile in Friedrichshain seinen Anfang.

 

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