Kurzgeschichten aus dem Wilden OstenVerkehr

Der Wilde Osten: BVG-Fahren in den 90er Jahren

Vor vielen, vielen Monden gab es eine besondere Zeit eines Aufbruchs in einem Teil einer Stadt im tiefen, wilden Osten Deutschlands. Dieses Terrain wurde Ost-Berlin genannt. Dort tickten die Uhren noch etwas anders. Anders als in allen anderen Teilen dieses Landes. Stell Dir einen alten Stummfilm vor, in dem die Menschen sich alle wegen der geringen Bilderzahl so schnell bewegten. Jetzt stell Dir diesen Film ohne die Menschen vor. Dann füge diesem Film einen roten Opel Kadett hinzu. Siehst Du das Bild? So ungefähr muss man sich Ost-Berlin in den 1990er Jahren vorstellen.

Es hatte schon etwas von einer Endzeitstimmung, aber dafür wars ganz heimelig. Und nicht zuletzt gaben die zwei, drei bunten Autos dem Grau des Ostblocks ein wenig Farbe. Heute korrespondiert das Grau der Glasbauten mit dem Metallicgrau der Fahrzeuge. Diese enge Abstimmung macht das neoliberale Ensemble viel natürlicher und gibt selbstverständlich großen Anlass zur Bejahung des Lebens. Damals war man halt noch etwas rückständig. Ich meine, es waren die 90er und 2000er, und doch gab es Anlass für Hoffnung in der Zukunft, die – wie wir zwischenzeitlich wissen – an den noch nicht mal Höchstbietenden verscheuert wurde. An dieser Stelle noch mal Danke an die Herren von der CDU. Während also die regierende Boomer Generation das Erbe der nächsten Generationen durchbrachte, wurde uns versichert, die Zukunft sei sicher. Ach nein, das meinte nur die Rente und die ging beim Finanzskandal 2008 flöten.

Stromkasten Bus

Wo sich das Gesinde früher einfach kein Auto leisten konnte, war das Fahrrad das Fortbewegungsmittel der Wahl. Dennoch setzte sich das nur allmählich durch, denn das meiste Gesinde ist nun mal faul und lässt sich sogar von Regen und Minustemperaturen abhalten. Diese Leute, sie nutzen die Bussen und Bahnen, die Berlin so engmaschig zusammenhalten. Die Öffis sind die wahren Wegbereiter dieser Stadt. Das gilt natürlich nur, solange der Busfahrer oder Busfahrerin denn auch pünktlich kommt. Mag sein, dass ein Unfall und eine Demonstration und ein Mord oder alles zugleich die Straßen verstopfen. Ich habe bezahlt, und so lehrt es uns der kalte Wirtschaftsprimat, dann gilt die Vertragseinhaltung, selbst wenn es ein oder zwei Bienenarten kostet.

In einem Fall kam mir ein Bus unter die Augen, der da eigentlich gar nicht fahren sollte. Es war der Bus, der über die Friedensstraße bis zum Ostbahnhof in Friedrichshain seine Linie durch den Urschleim zog. Doch ich stand am Bersarinplatz, also etliche Querstraßen davon entfernt. Auf der Stirnseite des Busses war das Ziel Ostbahnhof angegeben, ich jedoch plante meine Reise an diesem Tag zur Warschauer Straße, die – man nehme zur Not einen Plan zur Hand – in einer anderen Richtung lag. Der Bus hielt mit dem üblichen Gequietsche, es zischte und die Türen öffneten sich. Der Busfahrer blickte mich an, doch ich lehnte ab. Der Bus war leer, keine Mitreisenden saßen darin. Der Fahrer insistierte: “He, sag mal. Kennst Du Dich hier aus?” Verdutzt, aber interessiert stieg ich zu. Mein Lächeln blitzte kurz auf, aber der Busfahrer, der nur wenig älter als ich war, meinte es ernst. “Weißt Du, wo es zum Ostbahnhof geht? Ich hab mich irgendwie verfahren. Ich glaube, ich bin da hinten irgendwo falsch abgebogen.“ Ich war amüsiert, aber dennoch ungläubig: “Ist das Ihr Ernst?”. Mit ernster Miene und betontem Nicken bestätigte er es und bot mir an: “Ich fahr Dich hin, wo Du willst, wenn Du mir den Weg zeigst”. Das erschien mir zwar überzogen, doch ich willigte ein. Wir fuhren los, als er mir die Geschichte seines ersten Tags darbot. Eine Geschichte eines bösartigen Gottes, der ihn dieser Situation aussetzte. Ich weiß nicht mehr, woher der Busfahrer kam, aber ein sächsisch mischt sich in meine Erinnerungen. Ich wies ihm den Weg in die Frankfurter Allee und von dort in die Straße der Pariser Kommunen. An dieser Ecke entließ er mich und die Türen des Straßenschiffs öffneten sich nur für mich. Ich erklärte ihm, er müsse nur noch geradeaus fahren, als er heftig nickend bestätigte, dass er sich an die Ecke erinnern könne. Mit einem ausdrücklichen Dank schloss er die Tür und brauste erleichtert davon. Dass ich das erleben durfte, war klasse. Und es lockerte das Ansehen der BVG auf. Die BVG-Busfahrenden waren nämlich im Berlin der 90er Jahre besonders stringent. Waren die Türen geschlossen, hätte selbst der Papst sie nicht mehr zum Öffnen gebracht. Scheißegal, welche Hindernisse Du überwunden hattest, dieser spezielle Sesam blieb geschlossen. „No matter what!“, wäre ein guter Slogan gewesen. Es war ja immer schon eine Boshaftigkeit der BVG-Fahrenden, in dem Augenblick loszufahren, wenn sie mich sehen. Es schien mir allzu oft so, dass der Bus an der Haltestelle seit geraumer Zeit stand und wartete, bis ich um die Ecke kam, um dann augenblicklich mit quietschenden Reifen davonzurasen. Und je schneller ich war, desto eher fuhr der Bus weg. Auch wenn man dem Bus hinterhergerannt ist, er kannte kein Pardon, selbst wenn der Bus gar nicht weiterfahren kann. Also steht man klopfend und rufend vor den Fenstern der verschlossenen Bustür, durch die Dich zwei Augen mit angefüllter Gleichgültigkeit ignorieren. Kein Verständnis machte sich breit, kein Bedenken könnte die Hand dazu bringen, den Knopf zu drücken oder den Hebel zu betätigen. Und nur in seltenen Fällen wurde mit einem Kopfschütteln die Leitlinie kommuniziert, während die Flehenden der Hoffnung beraubt im Rückspiegel verschwanden. Verlassen und alleine im Unverständnis, warum gerade er oder sie jetzt noch weitere, sich bis zur gefühlten Ewigkeit ziehende zehn Minuten warten musste und damit der gesamte Zeitplan über den Haufen geworfen war. Denn ohne Handy war es früher schwer, der Verabredung mitzuteilen, dass es je nach Distanz etwa 10 bis 30 Minuten später wurde. Sicher, ich hätte auch früher losgehen können, aber das ist ja nun wirklich nicht Berlin-Style. Und wenn ich den Bus dann endlich erwischt hatte, hielt er nicht da, wo ich aussteigen wollte. Nein, der Bus fuhr an Deinem Zuhause, das 600 Meter von der Bushalte entfernt auf dem Weg lag, vorbei und der Bus ließ Dich auch bei strömendem Regen nicht außerhalb der Bushaltestelle zu- oder aussteigen. Der Bus ist die Schicksalsgöttin der BVG, gnadenlos und unerbittlich – und was einen Großteil der Fahrenden angeht, sehr lustige Zeitgenossen und -Genossinnen. Wie jene Busfahrenden, die in den alten Tagen eine kostenlose Stadtführung auf der Linie 100 und 200 im Serviceangebot hatten. Auf ihrer Route, die Unter den Linden durchführt, erklärten sie im „Icke, dette, kieck a-ma“-Dialekt die Sehenswürdigkeiten Berlins: „Und zur Linken sieht ma nu jerade Erichs Lampenladen, der vom Asbest befreit wird. Was dette wieder kostet! Und da kommt jetze der Lustjarten. Da jehts zur Museumsinsel!“

Es war nach einer Berliner Partynacht im Wilden Osten, in der ich mal wieder dachte: Na ja, dann biste morgen eben ein bisschen müde, musst ja nur ein Frühstück und eine Abschiedszeremonie am Bahnhof durchhalten, wenn meine Eltern mit dem Zug Berlin wieder verlassen. Als meine entzündeten Augen dann die vorangeschrittene Uhrzeit auf meine Netzhaut projizierten und die Information mein betäubtes Gehirn erreichte, versetzte mich ein Adrenalinschub in die Lage, mich innerhalb von Minuten zu richten und zur U-Bahn zu begeben. Die U5 in Richtung Alexanderplatz, dann der Bus bis zum Bahnhof Zoo – damals war der Bahnhof Zoo das Tor nach und aus Berlin raus. Ich schilderte dem Busfahrer meine Situation und fragte: “Schaffen wir das?”. Der Busfahrer, der mehr Verständnis für mich aufbrachte, als ich erhoffte, gab ordentlich Gas, als er sagte: “Das schaffen wir!” Und wir schafften es – also fast. Ich stürmte die Stufen des Bahnhofs hinauf und sah meine Eltern durch die Scheibe des Zugs langsam davonfahren. Es war vielleicht die kürzeste Abschiedszeremonie, aber ich war anwesend. Darauf bestehe ich.

Aber beim Zug ist mir verständlicher, dass der nach dem Anfahren nicht noch mal die Türen öffnet. Obwohl das bei den Türen der S- und U-Bahnen in Berlin der Postwendejahre tatsächlich möglich war. In heißen Sommern verschaffte das eine Abkühlung und für die Todessehnsüchtigen war es das Ticket zum Surfen. Ich hoffe, ihr habt noch etwas Zeit, denn dafür muss ich vielleicht noch ein bisschen ausholen. Noch in den frühen 90er Jahren gab es in Berlin das Phänomen der S-Bahn-Surfer, deren Überreste von den Betonwänden gekratzt wurden. Es waren vom Adrenalinkick und Testosteron getriebene Jugendliche, die während der Fahrt auf die S-Bahn stiegen, um den Fahrtwind zu genießen. Hätte das keine Toten und schreckliche Bilder verursacht, hätte ich es wohl kaum verstanden, als ich dessen Zeuge wurde. Ein paar junge Leute mit den modischen Accessoires der Ende 80er und Anfang 90er sprangen kurz nach Fahrtbeginn auf. Sie nickten sich zu und schoben die Türen mit etwas Kraftanstrengung auf, um auf das Dach des Waggons hinaus zu schlüpfen, wo man sie lachen hörte, während die Menschen im Waggon betroffen und hilflos umherschauten. Und ja, es ging glimpflich aus. Ich erinnere mich, dass meine Lehrerin den Vorgang mit einer Bewegung der Befremdung, als hätte Nosferatu von ihr Besitz ergriffen, kommentierte: “Bin ich froh, dass ich deren Blut und Hirn nicht wegputzen muss.”

Dass sich diese Türen während der Fahrt öffnen ließen, hatte einen Vorteil, wenn man eingeklemmt war. Natürlich hat das Leben mir eine ähnliche Szene zugedacht. Ich sprang in letzter Minute, na ja eigentlich nach dem letzten Tätääätä in die anfahrende S-Bahn. Der Sprung war so genau getaktet, dass ich es mit den Beinen in die S-Bahn schaffte. Doch die Türen schlossen sich hinter meinem Rücken, was meinen Rucksack außen vorließ. Ich konnte die Arme aber nicht so anwinkeln, um die Türöffner zu bewegen. In den alten Zügen gab es keinen Knopf, sondern zwei Hebel, die man auseinanderschob. Mit dem Zischen hatte man eine akustische Rückmeldung, dass es erfolgreich war. Während der Fahrt musste man die Türen richtig aufschieben und aufhalten, um die Tür offen zu halten. Der Zug fuhr an und bestimmt 20 Augen waren auf mein zappelndes Ich gerichtet. Ich versuchte meinen Rucksack herauszuwinden, denn ich fürchtete den nächsten Bahnhof. Die einzige Möglichkeit erschien mir, den Rucksack abzustreifen und damit zu verlieren. Es verging einige Zeit, in der ich das Wort Hilfe nicht über die Lippen bekam. Es gab aber auch keine Ambitionen vom Publikum, mir zu helfen. Bis mich dann doch endlich ein junger Mann freisetzte. Danke noch mal, falls Sie das lesen.

So, das waren die Geschichten von alten Tagen aus dem grauen Ost-Berlin mit dem Charme eines Betonpfeilers. Und jetzt haste ein Verständnis dafür, wie das mit der BVG in den alten Tagen aussah. Und in der nächsten Vorlesung lernen wir, wie es war, sich mit dem Rad durch die Stadt zu bewegen. Das kommt übrigens alles im Test vor, also gut mitschreiben.

Entdecke die ganze Welt des Wilden Ostens. Der Überblick:

Wilder Osten. Kolumne über OstBerlin in den 90er Jahren. Wilder Osten. Kolumne über OstBerlin in den 90er Jahren. Wilder Osten. Kolumne über OstBerlin in den 90er Jahren. Wilder Osten. Kolumne über OstBerlin in den 90er Jahren. Wilder Osten. Kolumne über OstBerlin in den 90er Jahren. Wilder Osten. Kolumne über OstBerlin in den 90er Jahren. Wilder Osten. Kolumne über OstBerlin in den 90er Jahren. Wilder Osten. Kolumne über OstBerlin in den 90er Jahren.Wilder Osten. Kolumne über OstBerlin in den 90er Jahren.Wilder Osten. Kolumne über OstBerlin in den 90er Jahren.

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