Der Wilde Osten: First Contact to the Änternät

Ein Dialog, wie er vermutlich anno 2000 stattgefunden haben mag:

Sag mal, hast Du schon Internet? Ähm, ja. Klar! Oh, super, kannst Du mir mal ein paar Sachen herunterladen? Oh je! Das würde ich furchtbar gerne tun, aber das Problem ist … Ich, … Ich, ich hab gar keinen CD-Brenner, weißt Du? Ich meine, ich kann es Dir herunterladen, aber eben nicht mitgeben. Von daher… Ah okay. Schade.

Versetzen wir uns also in ein Land vor der Digitalität des World Wide Webs. Nur das Telefon und der Brief waren mögliche Formen des Social Distancing. Es blieb Dir nichts anderes übrig, außer selbstverständlich noch so realtime reden, also analog, also in Präsenz. In dieser vorgeschichtlich anmutenden Zeit war das Internet noch eine Hollywood-Vorstellung der totalen Überwachung. Science-Fiction Filme, in denen gigantische Konzerne mit unglaublichen Mitteln und illegalen Machenschaften nach der politischen Vorherrschaft greifen. Die Reichen würden sich einigeln gegen Menschen, die aus lauter Verzweiflung eine Flucht auf sich nehmen. Und am Schluss steht eine gewaltige Naturkatastrophe, vor der die Wissenschaft so eindringlich gewarnt hatte, aber die Verantwortlichen wollten der Profitmaximierung nichts in den Weg stellen. Eine ganz platte Story und dann gleich so übertrieben! Als könnte uns Menschen eine Natur etwas anhaben? Lächerlich! Und dann noch die Streifen im Bild des Magnetbands, das durch das wiederholte Ansehen an Bildqualität einbüßte. Steinzeitlich! Aber jetzt, meine sehr geehrten Damen und Herren ist alles digital! Wow! Yeah! Gamechancer! Big Red Ass Yes! Die Top Irgendwas der besten Internetanwendungen der Postwendezeit und weitere Highlights aus dem Gedächtnis eines Zeitzeugen!

Schneider-CPC-464-Gruenmonitor

Es ist wohl so, dass der Porno das Internet groß gemacht hat. An wem wäre das denn vorbeigegangen? Und am Anfang stand das Modem, zumindest musste man den Telefonhörer nicht mehr darauflegen. Ach ja, die schöne alte Zeit des Analogen. Bezüglich des Modems meinte das hektische Piepstöne, die den Ohren kein Wohlgefallen waren. Man sagte, das Internet macht Pornos schnell und einfach zugänglich. Das mag heute so sein, aber in den Anfängen gestaltete es sich weder einfach noch schnell, ein solches Aktbild zu finden. Wie sollte man an ein solches Bild kommen? Suchmaschinen gab es zwar, aber das waren Linkwüsten! Ein Vorschaubild? Wie lange sollte das Laden der Seite denn dauern? Thumbnails waren damals noch Daumennägel. So verbrachte der junge Mann Stunden damit, im Trüben herum zu klicken. Was man dann auch immer fand, es dauerte viele Minuten, bis das Bild sich Linie für Linie aufgebaut hatte. Immer begleitet vom Schreien der quälenden und nicht endenden Piepstöne. Wie viele Stunden verbrachten wir wohl damit, auf jedes Zucken, jedes Waberns des Ladebalkens von Windows zu lauern?

Hat es sich bewegt? Nein!

War es je das akkurate Abbild der Wartezeit? Bedenke: 99 Prozent Fortschritt wurden in 10 Prozent der Zeit erreicht und das letzte Prozent des Vorgangs dauerte 90 Prozent der gesamten Zeitspanne. Wie viele Stunden geduldeten wir uns, um etwas von der Diskette zu laden? Ich hatte als Kind sogar noch ein Kassettendeck am Computer! Allein die unerträgliche Wartezeit, eine CD einzulegen und einen sich nicht verändernden Monitor anzustarren, lässt ein Stöhnen entweichen, das aus der Zeit noch vorrätig war.

Ist der Ladebalken jetzt etwas weiter? Seit Stunden nicht. Jetzt können wir wohl mit Sicherheit sagen, dass es abgestürzt ist.

Wie oft das früher passierte, wa? Wann hast Du zum letzten Mal einen Bluescreen gesehen? Du weißt nicht, was das ist? Dann Glückwunsch! Dazu kam die Dauer, bis der Computer den Inhalt erfasste und anzeigen konnte. Das ist für heutige Vorstellungen eine kleine Ewigkeit. Annodazumal sagte man, man könnte sich noch einen Kaffee kochen und trinken, bis der Computer hochgefahren ist. Ich meine, das war Arbeitszeit. Heute würde man bei dem Zeitverbrauch von einer Staffel der Lieblingsserie sprechen. Hast Du gesehen, was der …? Nein, nicht spoilern!

Das mit der Internet-Geschwindigkeit gelang erst mit etwas, das ich nur als Abkürzung kennenlernte und dessen Bedeutung sich mir nie ganz erschloss: DSL. Das war dann tatsächlich ein gehbarer Weg ins Internet und kein verwunschener Wildtierpfad aus der Welt analoger Modems. Jetzt konnte man sich dem wichtigsten Vergnügen des Internets widmen und neue Wortmigrationen gelangten von der konservativen Sprachpolizei unbemerkt in den verbalen Alltag: Download. Sharing. Donkey/Mule. Ja, liebe Kinder, Eure sich darüber entrüstenden Eltern haben die Tradition der Anglizismen aus der vorherigen Generation übernommen. Weißt Du noch, dass Angela Merkel vorschlug, man solle statt Homepage Heimseite sagen? Gegenvorschlag: Man könnte doch statt Kai Wegner vom opportunistischen Hans-Georg Maaßen sprechen? Oder von der CDU als Proto-AfD? Das Internet war ein Raum, wie ihn die alternative Szene immer wollte. Frei von Kontrolle, friedlich und harmonisch und nonkommerziell. Im krassen Kontrast zu heute. Kann es sein, dass das negative Auswirkungen auf die Gesellschaft hatte? Jedenfalls bedeutete der Download für die Film- und Musikindustrie einen gewaltigen Ausfall von Gewinnen. Diese einzustreichen war ungeschriebenes Gesetz, eine Frage von Fressen und gefressen werden. Es war ein weiterer Stein im neoliberalen Konstrukt, der leider auch mich am Kopf getroffen hat. Da gab es eine Seite, die mein Bild widerrechtlich genutzt hatte. Heute tut mir die Abmahnung leid. Ich gab den Druck einfach weiter – unüberlegt, unreflektiert und unbarmherzig. Damals war das Internet freier von solchen Ambivalenzen. So gerieten Tauschbörsen zu den meist genutzten Seiten des jungen Internets. In jenen Tagen habe ich meine letzte CD gekauft. Es war das Album ‘Without You I’m Nothing’ von Placebo. Dann folgten Jahrzehnte ohne überhaupt einen Neukauf und inzwischen … Ich weiß nicht mal, wer derzeit auf Platz 1 der Charts ist. Gibt es das überhaupt noch?

Alle paar Monate gab es wieder einen besseren Chip und bessere Computer und bessere Grafikkarten. Und die jeweils neuen Preise markierten regelmäßige Höchststände wie heute die Hitzetage. Ich fand kürzlich eine Zeitungswerbung aus der Zeit der Jahrtausendwende wieder. Es war ein 800 Mhz Prozessor für einen hohen (ich müsste die genaue Zahl lügen, aber ich denke, es waren so roundabout 800 Flocken) – einen hohen dreistelligen DM-Betrag. Die Preise waren mir zu hoch, aber so eine moderne Schreibmaschine, dachte ich, das wäre schon toll. Also war mein erster Computer ein ausrangierter 486er von meiner Schwester! Die Computer hatten bald die Kontrolle über mich erlangt, wie es in den alten Filmen dargestellt wird – kurz nachdem eine Frau einen grellen Ton herausschrie. Nun wollte ich mehr! Mehr Rechenleistung, mehr Grafik, mehr Programme. Und was die Programme anbelangte, sind selbstverständlich Spiele gemeint. Die große Zeit der PC-Spiele war angebrochen und soweit es mich betraf, so war es Command and Conquer. Die unzähligen Stunden vor dem flimmernden Röhrenbildschirm mit 800×600 Pixel-Auflösung lösten kartharsische Zustände aus. Wenn ich die Augen schloss, fuhren kleine Panzer durch den simulierten Sand.

Doch dafür brauchte man das entsprechende Equipment. Es war doch aber eine Investition in die Zukunft und ich hatte mir bald die Fähigkeit des Zusammenbaus von Computern angeeignet. Dann brauchte man das nicht mehr und mein ganzes Wissen konnte nie seinen Weg zum Kommerz finden. Damals war es aber nötig, denn ich kaufte meinen Computer per Katalog in Einzelteilen. Ich weiß gar nicht mehr, wie das damals gelang, aber ich wusste, dass der Lieferdienst an einem bestimmten Tag kommen würde. Also wartete ich und wartete. Ungeduldig, den Computer endlich zusammenbauen zu können. In der Nacht, so malte ich es mir aus, könnte Windows installiert werden und schon nach einem kurzen Schlaf sollte das Einrichten erfolgen. Mich trennten nur noch vielleicht 24 Stunden von einer epischen Schlacht.

Screenshot PC-Spiel aus den 2000er Jahren: Command & Conquer

Mit diesen Gedanken saß ich so in meiner Bude und tippte auf einer Hausarbeit auf dem alten 486er herum. Es war Sommer und ich hatte alle Fenster auf, womit ich mir ein Frühwarnsystem schuf. Der Hall des geschlossenen Hinterhofs erreichte meine jungen Ohren gut, schließlich genügte es auch für das Bettgeflüster in der Nacht. Es war derart auch unmenschlich, als mein Nachbar in unerträglich falscher Stimmlage und zur zigten Wiederholung im privaten Superstar-Contest mit Last Christmas den Weltschmerz hinauskreischte. Und es reichte in der Nacht für die Worte des nachbarlichen Besuchs aus, der vorschlug, allen Rädern die Luft rauszulassen. Der alte Arbeiterbau in der Rigaer Straße hatte vorne keinen Briefkasten und der Postbote musste diesen akustischen Verstärker durchschreiten. Spätestens die Treppen würden eine sich nähernde Person verraten, hoffte ich. Ein Geräusch, das meine Aufmerksamkeit intuitiv auf sich lenkte, war ein leichtes Kratzen an der Tür. Es verriet eine Präsenz. Ich betrat meinen Flur und durchblickte den Türspion in den leeren Treppenaufgang. Aber hört doch: Ein Tatverdächtiger stieg schnell die Treppen hinab. Ich riss die Tür auf und da flatterte mir eine UPS-Bescheinigung in die Hände. In nie da gewesener Geschwindigkeit griff ich mir Schuhe und Schlüssel – ich war der Comic-Tasmanische-Teufel durchs Treppenhaus und im Hof. Da stand der UPS-Lieferwagen in der Einfahrt. Ich sprintete die letzten Meter und warf mich symbolisch vor den Lieferwagen, dessen Fahrer sich gerade anschickte, den Motor zu starten. Mit wild herumfuchtelnden Armen und eindringlich auf die Bescheinigung zeigend, flehte ich den Fahrer an, mir das Paket auszuhändigen. Der ganze Vorgang war einem Wild-West- Kutschenüberfall nicht unähnlich. Der UPS-Fahrer fluchte ungehört und drischte den Frust am Lenkrad ab. All die Mühen, sich leise nach oben zu schleichen und fast unmerklich einen Zettel an die Tür zu stecken, waren umsonst. Er nickte mir zu und lud aus. Es war alles da: Motherboard, Speicher, Soundkarte, Grafikkarte, Chip, Lüfter, Festplatte und Netzteil.

In den 1980er Jahren gab es zwei Systeme: Schneider oder Commodore. In den 90er Jahren habe ich ausgesetzt und dann war es entweder AMD oder Intel. Zwei Systeme, die nicht kompatibel waren, wie Android zu Apple. Das nennt man Wettbewerb, man könnte es von außen betrachtet auch als Verschwendung von Zeit und Material bezeichnen. Wie immer hat man also nicht den Markt eingeschränkt, sondern die Allgemeinheit, und das war ab den 2000er Jahren digital im Internet zu finden. Kennst Du noch die Zenrursula? Das war selbstverständlich am Ende der Dekade. Der Markt geht vor, das versteht sich ja von selbst. Also bitte. Wo wären wir heute, wenn wir … Nein, nein. Das ist doch Sozialismus! Wehe dem Flecken jener Lebenssphäre, der sich dem Kommerz entzieht. Alles muss bewirtschaftet werden, es sind eben harte Zeiten für die Leistung. Tatsächlich sind wir produktiv wie nie zuvor, aber da geht noch was! So ist das Leben, alles andere ist eine Traumwelt! Eine Welt, in der nichts mehr real ist. So kann man doch nicht leben. Da kann man doch nichts aus sich machen, so kann man kein Geld verdienen? Oder doch? Das war doch der bunte Hund, der durchs Dorf vollstreckt wurde. Es war anrüchig, es war verwerflich, es hatte den Charme des Räuberhauptmanns– das Internet. Daher musste es kommerzialisiert werden. Plötzlich konnte man mit dieser Simulation des Lebens Geld verdienen. Gut, dass die Wirtschaft aus Naturgesetzen besteht. Gar nicht auszudenken, wir würden unser ganzes Wohl und Heil auf eine gedankliche Konstruktion verlassen. Du meinst? Ja! Gott war nie weg, er hat nur seinen Namen gewechselt. Und der neue Gott hat sich des Internets voll und ganz bemächtigt. In diesem Neuland waren wir alle Heiden, nun wurde es Pflicht, das christliche Mal im Avatar tragen – unauslöschlich mit einer Steuernummer genau zu identifizieren. Damals waren wir erstaunt über diese neuen Welten. Sie entstanden in Minuten und im nächsten Augenblick hat ein ‚Unbekannter Fehler‘ diese Welten unwiederbringlich zerstört.

Es mutete der Hexerei an, wenn man plötzlich Briefe in Sekundenschnelle verschicken konnte. Man konnte sogar mehrere Briefe gleichzeitig an verschiedene Leute schicken. Vorausgesetzt, man verfügte über die Grundkenntnisse. Selbst meine Eltern, die sich der Technik verschlossen konstatierten: „Ja, ja. Das ist schon ganz praktisch.“ Was für Zeiten! Also, eigentlich eine neue Zeit, in der alles noch so unschuldig war. Viren waren noch die Ausnahme, Anwaltsbriefe kamen noch vom Nachbarn. Doch es gab schon jene Geister, die die Arglosigkeit ausnützten. Was zu analogen Zeiten ein Glücksbrief war, war in den Anfängen des Internets die Begegnung mit inzwischen hingenommenen Belästigungen. Es war wohl eines der ersten Begriffe dieser Zeit, die von Nerds geschaffen wurden – vom Bug mal abgesehen. Ich lernte das Wort kennen, als ich gegenüber einem belustigten Freund von einer seltsamen E-Mail berichtete. Eine mir völlig unbekannte Person aus einem Land, das ich im Weltatlas nachschlagen musste, schrieb mir eine E-Mail mit einem Text, der selbst in der Übersetzung mit meinem Wörterbuch keinen Sinn ergab. Ja, das ist Spam. Das wird Dir bestimmt noch öfter passieren. Kannste einfach löschen.

Kannst Du Dich an Deine erste Spam-Mail erinnern? Ich ging jedenfalls davon aus, dass die E-Mail einen Irrweg zu mir nahm. Nun musste ich dem Absender nur noch eine Nachricht zukommen lassen, um ihn darüber zu informieren, dass ich der falsche Adressat sei. In bestem Englisch entschuldigte ich mich dafür, die E-Mail irrtümlich erhalten zu haben und bat darum, er möge doch die E-Mail-Adresse prüfen, denn schon ein winziger Fehler könnte die Nachricht auf die andere Seite der Erde katapultieren, wie es in diesem Kasus offensichtlich der Fall war. Kind Regards, der falsche Adressat. Ganz recht, man war noch unbedarft. Nicht so unbedarft wie Angela Merkel, als sie von Neuland sprach (als würde man von der heutigen USA als Neue Welt sprechen), aber unbedarft. Mit Kind Regards an den Bot, der das versendet hat.

Es war der Beginn des Endes der Postkarte, der Untergang des Briefs und Fall des Katalogbestellens, einzig die Rechnungen und Amtsschreiben sind uns erhalten geblieben.

Das waren die nicht amtlichen Top Irgendwas der Erinnerung der besten Internetanwendungen im Wilden Osten! Du vermisst da noch was? Irgendwelche anderen Portale. Ich versteh schon, aber weißt Du, so viel Bandbreite hatten wir damals auch noch nicht.

Entdecke die ganze Welt des Wilden Ostens. Der Überblick:

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