Als mich die Berlinitis in den 90er Jahren ereilte, hatte ich wenig Sinn für die Prachtbauten des ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaats. Die Karl-Marx-Allee war vielleicht prachtvoll, aus der Sicht alter Leute, aber für mich war es vor allem Platte – mit ein paar Deko-Elementen. In der Platte willst Du nicht wohnen, das war das unausgesprochene Credo. Das bedeutete den absoluten sozialen Abstieg. Jemanden in die Platte mit nach Hause nehmen? In die Platte? Nääeh! Da kannst Du ständig Deine Nachbarn hören – und das stimmt, die Wände sind verdammt dünn. Aber nicht alle haben einen Nachbarn so um die 70 Jahre, der gleich morgens um 7 Uhr das Klavierspielen erlernt. Dies war umso bitterer, da sein Fehler bereits nach wenigen Sekunden auftrat. Für mich bedeutete das, ich wurde an zu vielen Tagen mit dem immer gleichen und sich wiederholenden Liedabschnitt geweckt, der keinesfalls spektakulär war. Es reichte nicht mal für das Thema des Lieds. Man mochte die korrekte Note hinaufschreien, doch das ging nicht, denn er würde Dich hören. Der Versuch, mit einem Besenstock sich darüber an der Decke zu beschweren, wurde vom Quälgeist ungehört mit rieselndem Gips beantwortet. Gips auf mein Haupt oder so ähnlich!
Das Problem mit der Platte in den 90er Jahren war, dass sie hässlich war. Sie war das Symbol eines gescheiterten Systems, dessen Spuren keinen Zuspruch fanden. Das war selbstredend nur die Perspektive von außen. Innen ist das Aussehen eine Frage der Einrichtung, aber der Blick von außen erfüllte mich mit dem vollen Bewußtsein, ob der Bedeutung des Wortes ‚Bausünde‘. Hinzu kam der Charme von sozialem Abstieg und, was Teile des Ostens von Ost-Berlin betraf, das verstärkte Auftreten von Nazis. Wo man Platte sah, dachte man bald: Da wohnen Nazis. Die selbstverständlich irre Logik war: Nicht alle Plattenbewohnenden sind Nazis, aber alle Nazis wohnen in der Platte. Nicht selten kursierte die These, dass sie deshalb Nazis waren, weil sie in der Platte lebten. Das war natürlich eine falsche Ableitung der an sich richtigen These, dass Armut zu Bildungsarmut und damit zur AfD-Wahl verführt. Nur in den 90er Jahren hatte man dafür einen anderen Namen.
Der Ruf der Platte war schlechter als die Platten von Milli Vanilli. Das waren noch Zeiten, als der Aufreger war, dass Milli Vanilli gar nicht selbst sangen. Sie tänzelten nur zu einem Lied. Wäre das heute ein Skandal? Heute singt man diskriminierende Gangsterlieder und morgen singt eine Künstliche Intelligenz menschenfeindliche Lieder von der Roboterehre. Die KI versucht doch nur uns nachzuahmen. Ist doch niedlich, oder? Woher soll die KI die Eigenschaft denn sonst gelernt haben? Wer spricht dann den ersten Roboter frei, weil er eine seltsame Ansicht seines Schöpfers pflegt? Diese Dystopie muss noch warten, wir waren beim Ruf der Platte in den anfänglichen Nullerjahren.
Und schon bald fanden sich Individuen, die trotz ihres schlechten Rufs in die Platte gezogen waren. Schlicht aus dem Grund der geringen Miete, was in einigen Fällen auf Sparsamkeit in anderen Fällen auf Einkommensgrenzen zurückzuführen war. Letzteres ereilte mich in den anfänglichen 2000er Jahren. Allerdings konnte ich mir noch die sogenannten Prachtbauten auswählen. So eine Wohnungsnot geschieht ja nicht über Nacht und ich hätte den einen Wirrkopf genannt, der mir erzählen wollte, dass man in 20 Jahren froh sein wird, überhaupt eine Wohnung in der Platte zu bekommen.
Eine ähnliche Reaktion erhält man auch, wenn das Licht der Unannehmlichkeiten auf die Grundwasserabsenkung fällt. Wie viele Prozent braucht es, bis der Erkenntnis eine Handlung folgt? Ich frage mich auch, was passiert, wenn der märkische Boden austrocknet. Das ist doch der jute märk’sche Sand! Was geschieht, wenn eine kritische Masse wegrutscht? Aber nein, das wird sicher nicht passieren! Da hätte doch schon jemand dran gedacht! Nein, so etwas würde nicht passieren. Vielleicht überzeugt mich der dritte magische Spruch: Nein. Das wird nicht passieren. Das Böse wurde abgewendet! Glaubst Du nicht? Hat doch die letzten 16 Jahre gut funktioniert. Ist der Zauberspruch jetzt aufgebraucht? Kann man den aufladen?
Nicht alle fürchteten die Platte. Es gab durchaus Leute, die die Platte gut fanden und da gar nicht drin gewohnt haben! Meines Erachtens ist der Ursprung dessen in der ehemaligen DDR auszumachen. In ihren Augen verschmolzen in den Wohnungen Komfort mit Modernität, und das lag nicht an der DDR-Propaganda. Es mag auch andere Kenner*innen geben, doch davon gelang nichts an diese Ohren.
Und nach einigen Jahren im unsanierten Altbau erhalten Fahrstühle, moderne Küchen und Spielplätze doch einen Kaviargeschmack. Denn auch die Prachtbauten zeichnete das Equipment aus und schon bald sollte ich einer derjenigen sein, die die Platte eigentlich gar nicht so schlecht finden.
Es war ein warmer Sommertag zu einer Zeit, da man sich gerade an warme Sommertage gewöhnte. Die Semesterferien warfen ihre Schatten auf die schönste Zeit im Berliner Kalender. Wir, zwei Kommilitonen, waren auf der Suche nach einer WG-fähigen Wohnung. Die Postwendezeit hatte sich schon einige Jahre ins Leben gefressen und die Nägel der Heuschrecken quollen vor Immobilien über. Nein, ich fang nicht schon wieder davon an, obwohl es nötig wäre. Ja, ja, gut, aber der Hinweis darauf sei gestattet. (Klick mal auf den Titel „Der Wilde Osten: Der Anfang der Gentrifizierung“, wenn die anderen nicht hinschauen!) Also, wir besichtigten mit einigen anderen die Wohnung in der Karl-Marx-Allee. Während ein Mann sich mit der Frau von der Hausverwaltung ein Wortgefecht über die korrekte Aussprache der Straße der Pariser Kommune lieferte, erkannten wir, wie schön es sich hier leben ließe. Der Blick auf etwas Grün und der Schnitt waren ideal für eine WG. Schnell fiel die erstaunliche Entscheidung: Ja zur Platte mit Dekoration. Willkommen in den Stalinbauten, wo der Arbeiter*innen-Aufstand seinen Anfang nahm. Ich meine, es war zu zweit einigermaßen günstig und das Haus konnte sogar einen Fahrstuhl vorweisen. Hallo – ein Fahrstuhl war in Friedrichshain zu der Zeit eine tolle Sache. Mein erster Gedanke war, den hätte ich beim Kohleschleppen gut gebrauchen können. Doch eines Tages, lange Zeit später, erkannte ich, dass der Fahrstuhl mich des einzigen Sportes beraubte.
Die Akzeptanz der Räumlichkeiten schlich sich als eine Melange aus der Unlust, weitere Angebote abzuklappern und der Freude einen Unterschlupf gefunden zu haben, an. Der erste Schock war ein Wirrwarr von Gängen, in denen man auch falsch abbiegen konnte. In dem Fall stand man außerhalb des Gebäudes. Der zweite Schock war der färbende rote Boden. Ich fand nie heraus, warum der Boden so färbte. Der dritte Schock war, wie schnell wir uns darauf geeinigt haben, dass wir diese Wohnung unbedingt wollten. Sie passte wie angeklebt. In all den Jahren, da ich da wohnte, wandelte ich mit dem grünen Innenhof durch ein Ensemble, das mich an eine Ferienanlage erinnerte. Bis die Ertüchtigung kam. Die Hausverwaltung brachte die Anlage auf Profitkurs. Es begann mit der Verteuerung der Parkplätze, es folgte eine Schranke am Eingang und bald prasselten die Mieterhöhungen. Der Rechtsanwalt vom Mietverein riet mir:”Einfach ignorieren” – was funktionierte. Die Schranke bedingte einen lukrativen Parkplatz, der für die Anwohnenden mehr Abgase und Lärm beim Warten und dem anschließenden Anfahren bedeutete. Offiziell hätten sich natürlich Leute über den Durchgangsverkehr beschwert, der mir nie aufgefallen ist. Im Block gegenüber wurden die Mieten wegen Modernisierungen deutlicher erhöht. Man sprach von Ersparnissen beim Heizen, aber es wurde nur eine Seite isoliert. Gut, dass sich die Immobilienlobby-Partei CDU dafür eingesetzt hat, dass die Vermietenden diese Kosten für immer und ewig auf die Miete umlegen dürfen, ‚selbst wenn, und ich möchte dass das absolut klar ist, selbst wenn‘ sich die Kosten schon lange amortisiert haben. Das ist so, als würde man für ein einmaliges Essen jeden Monat etwas zahlen müssen.
In den ersten Jahren meiner Ferienanlage saß regelmäßig ein Rentner auf den Treppen zum Hinterhof. Dort konnte er von seiner Frau unbehelligt rauchen, wie er mehrfach kundtat. Die Gesundheit wäre ihr Argument gewesen, aber er hatte sich längst entschieden. Drei Jahre später starb der Mann. Er konnte mir aber noch eine kleine Geschichte erzählen, die ich hier nun einem größeren Publikum zuteilwerden lasse. Er saß natürlich draußen auf der Treppe mit seiner Schachtel Zigaretten und seinem Feuerzeug. Ich war gerade dabei, meinen Platten zu reparieren und wir kamen ins Gespräch. Der Mann, ich und Namen = furchtbar, verriet mir, dass er mithalf, diese Prachthäuser an der Karl-Marx-Allee zu bauen. Es waren die 50er Jahre und die DDR bot denjenigen eine Wohnung in der Straße, die bei der Arbeit halfen. Er verbrachte seinen ganzen Urlaub auf der Baustelle und wollte mit seiner jungen Frau hier einziehen. Das gelang ihm aber erst nach der Wende. Als die Leute hier auszogen, ergriff er die Chance und zog ein. Er wusste, so seine eigenen Worte, wie das Haus tickt. Er wusste, wieso die Wände Bäuche hatten, und das hatten sie! Wie konnte das sein? Ein Blick aus der Seitenperspektive hätte die Antwort gegeben, die ich erst herausfand, als ich dieses Gespräch hatte. Er warnte mich gleichfalls davor, die Wände ungeprüft anzubohren.
„Weißt Du, wir hatten oftmals nicht genug Kabel, deshalb haben wir den Strom quer über die Wand gezogen. Da spart man viel Leitung.“
Für jene, die wie ich keine Ahnung von derlei Elektrikgedöns haben: Leitungen gehen immer senkrecht oder waagerecht von der Steckdose weg und immer im rechten Winkel durch die Wand, um eben einen versehentlichen Stromschlag bei Wandbohrungen zu vermeiden. Also nie in der Nähe einer Steckdose oder in gerade Linie zu ihr bohren, es sei denn, man ist in der Karl-Marx-Allee, wo die Wege der Leitungen unergründlich sind. Was passiert, wenn man ein solches Kabel mit dem Bohrer trifft, konnte ich als Zivi in einer ehemaligen Pionierrepublik erleben. Auf einer Leiter stehend, bohrte der recht zierliche Zivildienstleistende in die Wand. Er wollte einen Wandteppich aufhängen und plante deshalb mehrere Löcher etwas oberhalb des Zentrums. Er bohrte bereits am zweiten Loch, als es einen Schlag tat und im ganzen Haus der Strom ausfiel. Als wir dem Geruch folgend den Grund dafür fanden, lag dieser mit dem Rücken auf dem Boden und hielt die Bohrmaschine nach oben.
Eine weitere Problemstelle sind bzw. waren die bereits erwähnten Decken, die aus Gips bestanden. Ich bin kein Fachmann, aber mit leicht stärkeren Druck konnte man den Finger durchstecken. Im Bewusstsein dieser fragilen Konstruktion ging ich in den Baumarkt Hellweg am Ostbahnhof. Ich wollte eine Halterung für die Decke holen und suchte Rat bei einem Verkäufer. Der wartete mit Fachfragen wie „Was für ein Gemäuer ist das?“ auf, die ich natürlich nicht beantworten konnte.
Aus der Gewohnheit der Unkenntnis der Kund*innen, blieb der Fachmann aber freundlich: „Wo wohnen Sie denn? Hier in der Nähe?“
Meine Antwort: „Karl-Marx-Allee“, verdüsterte sein Antlitz in Windeseile. Als hätte sich der Himmel unerklärlicherweise verdunkelt, zeichnete sein Gesicht eine Gestik der Abwehr. Es war der Name des bösen Geistes, den er offenkundig vernahm. Und so beschwor er mich: „Niemals, niemals, niemals bohre in die Decke bei den Stalinbauten. Das habe ich ein Mal bei meiner Mutter gemacht und der ganze Bums ist heruntergekommen. Ich brauchte zwei Wochen, um alles wieder in Ordnung zu bringen“.
Mich hätte das beschriebene Szenario, aus Unkenntnis handwerklicher Fähigkeiten ein Vermögen gekostet, das ich zudem nicht vorweisen konnte. Und was selbstverständlich der Grund für die Anmietung war. Ich bedankte mich für die Auskunft und ritt in den Sonnenuntergang!
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